Manic Street Preachers - Journal For Plague Lovers

ImageMitte der 80er Jahre starb in England der Sozialstaat. Die Gewerkschaften versuchten die Regierung mit erbitterten Arbeiterkämpfen in die Knie zu zwingen. Besonders hart traf es das Bergarbeiterstädtchen Blackwood, der Heimatstadt der Manic Street Preachers. Dort streikten hunderte Minenarbeiter gegen die konservative Hardliner-Politik von Margaret Thatcher - und verloren. Aus der stolzen Arbeiterstadt wurde ein trostloses, desillusioniertes Kaff. Zu dieser Zeit setzten sich vier Freunde ein Ziel: ihrem Ärger über die Borniertheit der englischen Klassengesellschaft Luft zu machen. Mit aggressiv-radikaler Musik sangen sie gegen soziale Ungerechtigkeit an. Ihr Leitspruch: Intelligenz versus Ignoranz.

James Dean Bradfield (Gesang & Gitarre), Nicky Wire (Bass), Richey Edwards (Gitarre) und Sean Moore (Schlagzeug) zelebrierten die Provokation. Sie sagten der spießigen Gute-Laune Mentalität der damaligen Musikszene den Kampf an. Die Band trug selbstkreierte T-Shirts mit situationistischen Slogans (I laughed when Lennon got shot), nicht selten warfen die Zuschauer ihrer ersten Konzerten mit Flaschen und Gläsern nach ihnen. Doch nach drei lauten, kompromisslosen Alben verlor Richey Edwards den Kampf gegen die scheinbar auswegslose Tristesse. Kurz vor ihrer Amerikatour 1995 verschwand der möglicherweise bipolare Songwriter der Manic Street Preachers spurlos. Seine Mitstreiter kämpften weiter. Im Laufe der Zeit wurde ihre provokative Musik erwachsener, mit zunehmender Erfahrung ihre Ansichten weiser. Das neue Album der Manic Street Preachers, „Journal for the Plague Lovers", ist eine Zeitreise - zurück zu den wilden Anfängen der Waliser.  

Das liegt vor allem daran, dass alle Texte auf dem Album vom verlorenen Sohn, Richey Edwards, geschrieben wurden. 14 Jahre nach seinem geheimnisvollen Verschwinden bekommt sein geistiger Nachlass auf „Journal for the Plague Lovers" ein neues musikalisches Gewand. Die ersten drei Lieder sind geprägt von revolutionärer Energie. In genau diesem Stil riefen die frühen Manic Street Preachers Mitte der 80er zu zivilen Ungehorsam a la „Slash'n'Burn" auf. In „Peeled Apples" spuckt James Dean Bradfield die Wörter regelrecht aus, und Nicky Wires Bass beißt sich tief in den Gehörgang. Bei „Jackie Collins Existential Question Time" spürt man die Intensität und den Nihilismus von „Motorcycle Emptiness", inklusive seiner großen Hitgarantie. Und „Me and Stephen Hawkins" ist mit seinen knackigen 2 Minuten 42 ein punkig-verärgertes Manifest gegen unkontrollierbare Gen-Experimente.

Mit „This Joke Sport Severed" schlägt „Journal for the Plague Lovers" eine überraschend sanfte Saite an. Akustikgitarre gepaart mit einem Himmel voller Geigen: Die Manic Street Preachers zeigen, wie ein Protestsong im neuen Jahrtausend zu klingen hat. Im selben Ton  präsentiert „Facing Pace: Top Left" Harfenklänge, die unter die Haut. Dieser Gegensatz von roher Punkenergie und melancholischen Weltschmerz machen das Album aus. So radikal wie „Journal for the Plague Lovers" beginnt, so sentimental endet es. Nicky Wire singt in „Williams Last Words" das Abschiedslied, das Richey damals seinen Freunden geschrieben hat. Er wusste genau, dass er von der Reise namens Leben nicht zurückkehren wird. Eingefleischte Fans werden bei diesem Lied mehr als eine Gänsehaut bekommen. Doch die Manic Street Preachers wären nicht die Manic Street Preachers, wenn sie sich im letzten Lied des Albums (ein hidden song) nicht selbst negieren würden. Wenn James Dean Bradfield schreit: „I am not dead", wird klar, dass Richey Edwards niemals aufhören wird, ein Teil dieser Band zu sein.

„Journal for the Plague Lovers" ist genau das, was der Titel verspricht. Ein Querschnitt durch die Krankheiten der modernen Zivilisation. Durch das Album hindurch manifestiert sich entweder Nihilismus, Entfremdung oder Aussichtslosigkeit. „I would prefer no choice": welch schwere Entscheidung: gehen wir heute Abend Spanisch oder Indisch Essen? "Empty arms and an aching heart": verloren in einer Welt, die auf schnellen Konsum statt auf echte Gefühle setzt. "Weighed down. Of course I smile": wenn uns in allen Medien fröhliche Gesichter entgegenlächeln, sollte man seine Depression besser nicht nach außen tragen. Die gesellschaftskritischen Texte von Richey Edwards laden auf intensive Art und Weise zum Nachdenken ein. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn jeder von uns einen kleinen, verrückten Straßenprediger in sich trüge.

Die Manic Street Preachers gehen mit „Journal for the Plague Lovers" auf eine teils rasante, teils wehmütige Reise in die Vergangenheit. Zurück auf Anfang, als sie noch junge Punks mit revolutionärer Energie und scharfer Zunge waren. Wer gerne Musik hört, die das Gehirn anregt, der wird ihr neues Album lieben. Wer das Unbequeme und Rohe der ersten Manic Street Preachers Alben mag, für den wird „Journal for the Plague Lovers" zur Offenbarung. Und für alle anderen ist das Album ein perfekter erster Schritt, die (vier) verrückten Waliser kennen zu lernen.

Erscheinung: 15.05.2009
Label: Sony
http://www.manicstreetpreachers.com/
www.myspace.com/manicstreetpreachers