20111110


Geschichten aus der Todeszelle

Wieder daheim. In der Zelle. Keim allen Lebens (Biologie), Keim allen Todes (Philosophie). Das Rad einmal gedreht und jetzt alles ein bisschen moderner: Weiß gefliester Boden, weiß geflieste Wände, weiß geflieste Decke sogar, weiße Fliesen, die vielmehr aus Milchglas zu bestehen scheinen, Aufprallflächen, wenn sich das weiterdreht.

Überhaupt scheinen das gar keine Fliesen zu sein, die Fugen gar keine Fugen, keine absichtsvoll undefinierten schlitzförmigen Öffnungen ins Nichts, sondern vielmehr scheint das, was die Augen sehen, das Weiße, das eigentliche Nichts zu sein, die Fugen dagegen ein feststoffliches Haarliniennetz, das mich davon abhalten soll, um mich zu schlagen!

Es ist dasselbe Netz, das man mir auferlegt hat. Ein unmissverständliches Netz, dessen Gitterstruktur mich ganz und gar umspannt. Feinste Drähte, die sich an Bauch, Beine, Po schmiegen wie eine zweite Haut und Knotenpunkte bilden, von wo sie mir aus dem Kopf und sogar in den Mund wachsen, Gitter, die mir auf dem Gaumen liegen, die die Zunge umschließen, und das Zäpfchen; Ursache ständigen Brechreizes ...

Ferner Haardrähte, die meine Speiseröhre inwendig auskleiden, bis hinunter durch Zwerchfell und Magenmund in die Bauchhöhle, auch diese vollflächig belegen, zwar angefressen von der Magensäure, doch unzerreißbar, nur fürchterliches Sodbrennen bekomme ich davon, schon weil alles nicht mehr richtig schließt.
Apropos: Am Schließmuskel des Pförtnerkanals zieht sich das Geflecht wieder zusammen, und bildet anschließend passgenau den Darmschlauch nach, selbst den Appendix nicht vergessend. Das Rektum blutig schneidend, schlüpfen die Drähte mir aus der Rosette und sind Grund einer permanenten Inkontinenz: Ausfluss, mehr Eiter als Kot, und das Rote kommt von den Hämorrhoiden, das kommt ganz bestimmt NUR von den Hämorrhoiden!!!

Doch vergessen wir die. Zurück auf der Außenhaut der Arschbacke trifft Drahtgitter auf Drahtgitter, Quell unheilbarer Dekubitalgeschwüre und Drähte auch in meinem Gesicht, wo sie mir in die Nase wachsen (und nicht etwa heraus, wie man oberflächlich meinen könnte), die mein Atmen schnaufen machen würden (täte ich atmen), so fein wie Gaze, ein eiserner Gazeschlauch, der bis in die Lunge geht, mit Abstechern in Bronchien, Kehlkopf, Rachen; Haargitter, die meine Lunge auskleiden, eine eiserne Lunge, das Rauchen kann MIR nichts mehr anhaben, schon weil die Lungenmaschine aus rein technischen Gründen nicht mehr atmet und nur noch zum Inhalieren angeschmissen wird.

Das, was du riechst, Leser, ist daher nicht der übliche Mundgeruch eines polypengeplagten Kettenrauchers, sondern der stöhnend leise Aufwind einer durch Stillstand bedingten Verrottung.
Von der Lunge aus ziehen sich die Drahtgitterhärchen ins Blut, drei vier Drähte je Vene oder Arterie, und selbst in die feinsten Verzweigungen quetschen sie sich, mindestens ein Draht je Äderchen, das macht dem Blut viel Mühe, überhaupt noch das Fleisch zu versorgen. Kein Wunder, dass ich so kalt bin, da fließt nämlich kein Blut mehr, es wäre auch zu gefährlich, der Thromboseprophylaxe schon wegen, und weil das Herz dann selbst betroffen wäre. So üppig, wie das Gitter in dessen Kammern quillt, schnitte jeder Schlag tiefe Furchen in die Klappen. Darum schlägt mein Herz nicht mehr, sondern harrt der Dinge, die nicht mehr viele sein können außer natürlich das Sterben an sich.

Nur des Todes harren wir, ich und die Drähte, die übrigens nicht nur passiv den Körper definieren. Viel unheimlicher ist mir ihre aktive Kraft, wie sie jede ZELLE im Griff haben. Will sagen, ich habe seit Tagen keine eigene Bewegung mehr ausgeführt.
Ich bewege mich nicht.
ICH bewege mich nicht, sondern das Gitter bewegt mich. Es liegt eine fühlbare Spannung darin, ausreichend, um meine Muskulatur kontraktieren zu lassen, wann immer es will.
(Wer ist »es«?)

Durchaus von Vorteil: Der Rollstuhl ist beinahe überflüssig und dient nur meiner seelischen Entlastung. Er ist ja auch kaputt. Ich stehe daher wie in besseren Zeiten morgens auf, ziehe mich ohne Hilfe an, nehme mein Frühstück ein und verdaue: Ich sitze auf dem Klo, muss aber weder zum Pressen noch zum Öffnen noch zum Schließen etwas beisteuern.
Alles macht das Gitter, das sogar meine Sinne belegt. Zum Beispiel auf den Augen: Es schmiegt sich butterweich um die Lidfalten, kriecht in die Höhlen und umschließt den Sehnerv, von wo ein Teil zurückfließt, um die Augäpfel zu umfassen.

Was sehe ich? Was höre ich? Was von meiner Zelle ist tatsächlich die Zelle? Was nur die verschwommene Wahrnehmung der über die Pupille gebeugten Interferenzen? Was sind Streuverluste, Gittergeister ...?

Wie kann ich auch nur darüber nachdenken? Wo doch der andere Zweig des sich an den Augen teilenden Gitters mit dem aus den tauben Ohrschnecken Kommendem zusammenfließt und mir ins Hirn zieht - und wie ein Drahtkorb alle Lappen, Windungen und Faltungen umschließt.
Und jeden Gedanken selbst manipuliert.

Mir kommt die alle Nackenhaare sträubende Frage, ob, wenn das Gitter das alleinige ist, das meinen Körper bewegt und Herzschlag, Atmung und Verdauung und alle Erkenntnis kontrolliert, dann doch auch jeder Gedanke einschließlich der aufgerichteten Nackenhaare seiner Kontrolle unterliegen müsste; schon also diese Frage - eine im Sinne des Gitters gewiss frevlerischer Frage - ein fremdbestimmter Gedanke ist und ergo niemals gedacht werden dürfte.

>>> Kommentar der Putzfrau: »... Hut ab!«